Darunter

Letzte Woche habe ich mich vor einer Gruppe Leute als autistisch „geoutet“. Sie wussten, dass es mir Anfang letzten Jahres sehr schlecht ging. Wir sehen uns regelmäßig, haben aber keinen sehr engen Kontakt. Trotzdem müssen sie Veränderungen an mir bemerkt haben (Stimming, Earplugs…). Sie haben freundlich und offen reagiert und wohlwollend genickt als ich sagte, ich müsse mich stückweise selbst wieder finden. Doch wie gelingt das überhaupt?

Zuletzt war ich mehr mit Traumaverarbeitung beschäftigt und ich habe den Wunsch, mehr zu demaskieren erstmal hintenan gestellt. Das war/ist auch sinnvoll, denn vieles hängt natürlich eng zusammen und ich finde nicht zu mir selbst, wenn ich nicht auch gewisse Verletzungen erkenne und behandle. Ein paar Dinge sind mir schon klarer geworden und insgesamt geht es mir mittlerweile besser. Daher kamen jetzt wieder Fragen danach in mir auf, wer/wie ich war, bevor ich stärker maskiert habe.

In anderen Artikeln habe ich schon davon geschrieben, dass ich im Kindergarten kaum Freunde hatte, nicht gerne dorthin gegangen bin und häufiger bestraft wurde, weil ich bestimmte Sachen nicht essen wollte oder Dinge nicht mitgemacht habe. Meine Klassenlehrerin in der Grundschule schrieb im Zeugnis der ersten Klasse: „Du hast Dich gut in die Klassengemeinschaft eingelebt und bemühst Dich zu allen Deinen Mitschülern um kameradschaftlichen Kontakt. Du hast zu vielen Dingen eine eigene Meinung und versuchst, sie auch durchzusetzen. Manchmal ist diese Meinung abwegig und verlangsamt Dein Arbeitstempo. […] Bei Gesprächen kannst Du weiterführende Gedanken einbringen.“

Es gab also anscheinend keine auffälligen Probleme mit den anderen in der Klasse, aber das „bemüht“ klingt für mich eher danach, dass ich damit nicht immer so erfolgreich war…? (Das Mobbing war etwas später und größtenteils außerhalb der Schule.) Dass unter den wenigen, knappen Sätzen die Anmerkung nicht fehlen durfte, dass ich versuchte, „abwegige Meinungen durchzusetzen“, finde ich schon bemerkenswert. Ich weiß noch, dass ich damals schon alles genau verstehen wollte. Insbesondere warum etwas ist wie es ist. Das klingt auch in meinem Artikel „Dickköpfig“ an. Was sagt das über mein unmaskiertes Ich? Ich denke, es hat sich nicht um Konventionen und Erwartungen geschert. Es war wissbegierig, unangepasst und kritisch. Es hat sich um Kontakt zu anderen bemüht, allerdings anscheinend nur bedingt erfolgreich. Ich weiß noch, dass ich mit meiner Meinung nicht hinterm Berg gehalten habe und aussprach, was andere nur hinter vorgehaltener Hand sagten. Das war oft verletzend oder irritierend.

Kürzlich habe ich meine Abi-Zeitung angeschaut. Wir haben (anonym) Kommentare übereinander für die Zeitung geschrieben. Sehr viele Kommentare zielten (eher spöttisch) auf meinen Glauben ab. Ich denke, dass ich von meinem Glauben offen erzählt habe, war für viele sehr ungewohnt und merkwürdig genug, sodass ich sowieso als Sonderling abgestempelt war. Eine Person schrieb: „kennt die Bibel auswendig, leider fällt sie nur dadurch auf, weil sonst sieht sie aus, als würde sie jeder annerven“. Eigentlich hat mich niemand wirklich genervt, aber damals habe ich noch nicht bewusst mein Gesicht kontrolliert und Leute gezielt angelächelt. Mir wurde extrem oft gesagt, dass ich eine Art „Killerblick“ drauf habe. Dabei ist das einfach mein neutraler Gesichtsausdruck.

Doch es gab auch andere Kommentare: „nett und ruhig“, „liebe Freundin, mit ihr kann man sich gut unterhalten, launisch […]“, „sehr engagiert, nett“, „hilfsbereiter Mensch“, „ist irgendwie anders“, „[…] man kann mit ihr ne Menge Spaß haben, aber ganz schön von sich eingenommen […]“, „mit ihr wird die langweiligste Freistunde zum Erlebnis […]“, „hat so ’nen geilen Humor […]“, „[…] auffallende Persönlichkeit, kenne sie aber zu wenig“, „seltsames Wesen“, „kenne sie fast gar nicht, sehr eigen“, „ungewöhnliche Individualistin […]“, „sehr zurückhaltend, teilweise verschlossen […]“. Ich war definitiv auffallend anders. Nicht nur wegen des Glaubens. Ich habe einen komplett eigenen Kleidungsstil gehabt, der mit Mode nicht viel zu tun hatte und trug in der Regel recht große, auffällige Ohrringe. Zeitweise hatte ich ausgeprägte Kappen- und Hutphasen. Aus den Kommentaren schließe ich, dass die meisten Leute nicht viel über mich wussten und ich sehr verschlossen (abweisend?) gewirkt haben muss. Die Leute in meinem sehr kleinen engeren Kreis kannten mich aber durchaus anders: verrückt und lustig, aber auch launisch.

Meine Tutorin hat in ihrem Grußwort für die Abizeitung allen aus dem LK ein paar persönliche Zeilen gewidmet. Zu mir schrieb sie: „[…], die mich immer mal herausforderte, wenn ihr ein Arbeitsauftrag unsinnig erschien und damit dem Unterricht auch Würze verlieh, der man schlechte Laune sofort ansah, dann war auch nicht viel mit ihr anzufangen […].“ Das klingt sehr nach dem, was auch meine Klassenlehrerin in der Grundschule über mich schrieb. Mit einer weniger wohlwollenden Lehrkraft wäre ich vielleicht arg aneinander geraten. Interessanter- (oder passender-?)weise habe ich es auch in der „Schülerstatistik“ unter die Top 3 der „größten Emanzen“ geschafft.

Neulich habe ich in meinen alten Tagebüchern gelesen und mir eine Passage abfotografiert, weil sie mich so „angesprungen“ hat. Da war ich etwa 14 und natürlich ging es um Herzschmerz usw. Ich hatte gerade mein Herz ausgeschüttet (sonst habe ich meist eine eher nüchterne Tageszusammenfassung gemacht) und dann schrieb ich: „Das mußte ich jetzt grademal loswerden! (Falls das hier jemand liest, dann lach nicht! – Es könnte dir mal genauso gehen!) Ich glaube, niemand (ausser Gott) kennt mich richtig. Meine Family zB kennt nicht mein ‚Schul-Ich‘. Also das, wie ich mich vor Freunden gebe. Und meine Freunde kennen eben nur dieses ‚Schul-Ich‘. Aber so, wenn ich allein bin, wenn ich träume, dieses Ich, das kennt keiner! Aber das ist wohl bei jedem Menschen so: Man hat eine äussere, meist coolere und härtere, Fassade und ein inneres Ich, das kaum einer, oder eher keiner, kennt. Ist schon irgendwo verrückt. Aber die Leute würden mich wahrscheinlich für total bekloppt halten, wenn ich mein ganzes, melancholisches Inneres herauslassen würde! Oder? So romantisch und verträumt, wie ich bin… Natürlich bin ich auch witzig und so, aber der andere Teil überwiegt bei mir um Vieles! So, wie auf den ersten 1 1/2 Seiten dieses Eintrags bin ich wirklich! So schnulzig und verträumt! Aber das muß ja nicht jeder wissen, und deshalb meine lustige, lebensfrohe, etc. Fassade! Ich wüßte nur zu gerne, wie die anderen aus meiner Klasse und so sind. Meine Familie! Die kenne ich auch nicht richtig! Krass, oder? Man denkt, man kennt jemanden saugut, und in Wirklichkeit ist derjenige ganz anders!“

Für mich klingt das nach mehr als situationsangepasstem Verhalten. Es ist wohl der Beginn der Maske. Auch wenn ich insgesamt trotzdem noch sehr unangepasst war und mich besonders visuell absichtlich abgegrenzt habe. Ich konnte mein Verhalten noch nicht so gut reflektieren und steuern. Mir war meine Wirkung auf andere nicht wirklich bewusst. Aber ich habe definitiv empfunden, dass mein „wahres Ich“ von niemandem gesehen werden darf. Dass es peinlich ist und mich ganz sicher alle ablehnen würden. Es gab Dinge, die ich nicht einmal meiner damals besten Freundin erzählt habe, obwohl wir uns gegenseitig aus unseren Tagebüchern vorgelesen haben und wir über sehr viele Dinge offen sprachen. Das geht sehr stark in Richtung „toxic shame“ und ist eine typische Traumareaktion: das Gefühl, dass man absolut falsch ist und es niemand wissen darf.

Ich konnte noch nie gut einschlafen. Wenn ich im Bett liege, drehen meine Gedanken Pirouetten. Erlebnisse des Tages, Gespräche, Unsicherheiten, Pläne, Aufgaben, Fragen… Über die Zeit wurde ich jedoch besser darin, die „Fehlerquellen“ zu identifizieren, mein Verhalten zu analysieren, Gespräche zu reflektieren und Handlungskonsequenzen daraus zu ziehen. Die Rückmeldungen, ich sei arrogant, engstirning, genervt oder intolerant machten mir zu schaffen. So wollte ich auf keinen Fall sein. Ich wollte hilfsbereit, tolerant, liebevoll und zugewandt sein. Ich wollte andere auf keinen Fall verletzen, aber es kam immer wieder vor. Also lernte ich, besser zuzuhören, meine Meinung weniger vehement zu vertreten oder gar nicht zu sagen, mehrere Perspektiven einzunehmen, andere anzulächeln und Smalltalk zu machen, nicht über meine Leistungen zu sprechen.

Nicht alles daran ist schlecht. Meine Erziehung war sehr religiös-konservativ. Es ist definitiv gut, dass ich aus meiner Bubble rausgekommen bin im Studium, dass ich unterschiedlichste Biografien gelesen/geschaut habe, mich mit Psychologie, Soziologie und anderen Religionen beschäftigt habe. So bin ich heute offener und toleranter. Das ist keine Maske, das ist Persönlichkeitsentwicklung. Was aber ist die Maske und was liegt darunter? Die Maske ist alles, was ich tue, um aktiv von meinem Innenleben abzulenken, sei es eine autistische Eigenart oder Teile meiner Persönlichkeit. Es sind Verhaltensweisen, die mich weniger autistisch erscheinen lassen sollen, weniger „weird“.

Im Bereich sensorische Reize habe ich am stärksten demaskiert. Dies war jedoch auch der Bereich, der mir am wenigsten bewusst war. Mir war nicht klar, wie viel Kraft mich das Aushalten von unangenehmen Reizen (zu helles Licht, kratzige Klamotten, unangenehme Geräusche…) gekostet hat. Es fällt mir schwer, meine körperlichen und emotionalen Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen und richtig zu deuten. Jetzt offener zu stimmen und mich vor gewissen Reizen abzuschirmen ist sichtbares Demaskieren und fühlt sich sehr authentisch an.

Schwieriger ist es mit Verhaltensweisen. Denn manches, das man aus Höflichkeit tut oder um einfacher mit Menschen zu interagieren, ist bestimmt Teil der Maske, erscheint aber auch im Sinne eines guten Zusammenlebens geboten. So würde ich definitiv nicht aufhören, Menschen gezielt anzulächeln, um ihnen ein gutes Gefühl zu geben. Es kommt nicht natürlich und es kostet mich Kraft, aber es ist etwas Schönes. Ich möchte aber versuchen, mit mir nahestehenden Personen mein neutrales Gesicht mehr zuzulassen, um Energie zu sparen. Smalltalk ist nervig, aber ich verstehe die soziale Funktion für viele Menschen. Insofern werde ich das ebenfalls nicht ganz ablegen. Mit mir nahestehenden Personen mache ich das sowieso eigentlich nie. Hier gibt es genug „echte“ Themen, beziehungsweise ist die Frage „wie geht es dir?“ in jedem Fall ehrliches Interesse, das zu einem echten Austausch führen soll.

Info-Dumping (oder generell das Sprechen über Spezialinteressen) habe ich mir weitgehend abgewöhnt. Es ist eigentlich nie gut angekommen und die meisten waren davon ziemlich überfordert. Es fehlt mir allerdings schon sehr. Es ist ein Teil, den ich sehr bewusst unterdrücken muss. Mein Mann ist oft besonders genervt von meinen Info-Dumps, das finde ich sehr verletzend. Ich muss es sehr sparsam dosieren. Vielleicht finde ich online eher Communities, in denen ich das ausleben kann.

Erwartungen enttäusche ich mittlerweile ab und zu. Ich habe mich in der Mitarbeit in der Kirchengemeinde zu einem Teil zurückgezogen, sage weniger Treffen zu, nehme nicht an Veranstaltungen teil oder gehe früher. Es fällt mir noch schwer, das auszuhalten, aber andererseits kann ich so meine Kräfte besser einteilen/schonen. Im Hinblick auf die Arbeit gelingt mir das jedoch noch gar nicht. Ich schaffe es nicht, mich wegen Migräne krank zu melden, den Unterricht mal nicht vorzubereiten oder länger für die Korrektur zu brauchen. Hier ist mein Verantwortungsgefühl extrem stark und Fehler oder Schwächen sind schier unerträglich für mich. Ich bin auf der Arbeit nur bei etwa einer handvoll Kolleg:innen geoutet. Ich wäre gerne offen autistisch in der Schule, gerade auch für ebenfalls autistische Schüler:innen, aber ich traue mich nicht. Ich habe große Angst vor negativen Konsequenzen, Stigmatisierung und Autoritätsverlust.

Scripting ist etwas, das ich im Verhältnis eher weniger brauche (am stärksten noch bei Telefonanrufen). Theaterarbeit, viele Referate/Vorträge und nun auch die Unterrichtserfahrung haben mir sehr geholfen, besser zu improvisieren und flexibler zu reagieren. Es kostet mich zwar viel Kraft, aber ich kriege es relativ gut hin. In diesem Bereich muss ich also vielleicht eher lernen, entspannter mit meinen eigenen „Fehlern“ umzugehen.

So auffällig meine Kleidung früher war, so simpel und pragmatisch ist sie heute. Schon bevor ich wusste, dass ich autistisch bin, habe ich mich entschieden, nur noch Kleidung und Schuhe zu tragen, in denen ich mich wohl fühle (Barfußschuhe, weiche Baumwolle, angenehme Schnitte…). Und Shirts mit Prints/Messages mochte ich noch nie. Dennoch habe ich mich im Referendariat bewusst entschieden, „unauffällige“ Kleidung in der Schule zu tragen. Abgesehen vom Hochsommer, wenn ich Sommerhosen tragen „muss“, ist mein Outfit immer relativ gleich: schwarze oder blaue Jeans, dunkelblaues oder schwarzes T-Shirt, blaue, graue oder schwarze Feinstrick-Jacke (Cardigan, idR ohne Kapuze). Sehr kleine Kreolen-Ohrringe, mittlerweile unauffällige Stecker (mit hellblauem Stein). Das einzige, das wirklich „speziell“ ist, ist mein Augen-Makeup: unteres Lid hellblauer Kayal, oberes Lid weißer Kayal, sonst nichts (sonstiges Makeup kann ich auf der Haut sowieso nicht ertragen). Ich will, dass meine Kleidung möglichst wenig über mich verrät und die Schüler:innen überhaupt nicht darüber nachdenken, was ich anhabe. In meiner Freizeit trage ich viel buntere Sachen. Ich weiß noch nicht, ob ich das ändern kann/will.

Alles in allem sehe ich mich auf einem ganz guten Weg. Ich würde mich gerne mal mit einer Person austauschen, die mich ein paar Jahre nicht gesehen hat und sie fragen, welche Veränderungen sie an mir feststellt. Weiß nicht, ob das möglich ist. Und ich würde gerne mehr Theaterarbeit machen. Ich stelle mir vor, dass es mir hilft, Verhaltensweisen auszuprobieren und zu reflektieren, wie sie sich für mich anfühlen. Zumindest war es in der Vergangenheit so. Mit den neu gewonnenen Erkenntnissen wäre das eine gute Möglichkeit. Und ich denke, ich muss neu lernen auszuhalten, dass einige Leute mich eben nicht mögen. Das ist vermutlich das schwierigste.


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