Scheinbar

Viele autistische Menschen, insbesondere solche, die erst spät im Leben diagnostiziert werden, entwickeln eine Art Fassade. Wir nennen das Masking oder Camouflaging. Das klingt irgendwie intentionell, gewollt. Als hätte ich mir überlegt, wie ich mich anpasse, damit ich weniger negativ auffalle. Doch das ist selten der Fall. Was ich hier schreibe, sind meine eigenen Erfahrungen, ich stelle jedoch fest, dass viele Autist:innen Ähnliches erleben.

Als Kind war ich einfach ich. In der Nachbarschaft hatte ich ein paar Freunde, ich war eher ruhig, dafür aber sehr eigenwillig („dickköpfig“), immer neugierig, sprach-affin und in mancherlei Hinsicht merkwürdig. Ich erinnere mich kaum daran, im Kindergarten mit anderen Kindern gespielt zu haben. Sehr wohl erinnere ich mich aber an viele Situationen, in denen ich mich gestresst, überfordert, unter Druck gesetzt oder ungerecht behandelt fühlte. Wenn ich es mir aussuchen konnte, war ich in der Puppenecke oder habe gemalt/gebastelt. Draußen habe ich mich in den Hecken versteckt, geschaukelt oder bin Rädchen gefahren. Von den Gruppenaktivitäten mochte ich eigentlich nur Vorlesen und Fangen.

Regelmäßig musste ich jedoch Spiele wie „Der Plumpssack geht um“ und dergleichen spielen. Das fand ich irrsinnig stressig, weil ich Angst hatte, es nicht mitzubekommen, wenn der Sack bei mir fällt und mich zu blamieren. Manchmal gab es Gemeinsames Essen; das war oft traumatisch, weil ich viele Dinge einfach nicht essen wollte (ekliger Geruch, widerliche Konsistenz, unappetitliches Aussehen). Da alle Kinder probieren mussten, saß ich stundenlang vor meinem Teller oder aß widerwillig einen Happen, den ich sofort wieder auf den Tisch auskotzte. Zur Strafe musste ich den Rest des Tages in der Küche sitzen. Eigentlich fand ich das fast besser.

Immer wieder bekam ich vermittelt, implizit oder explizit, dass ich so nicht sein darf. Dass ich die einzige bin, der etwas nicht gefällt oder die etwas nicht mag. Dass ich bockig bin. Dass nicht „alles nach mir gehen kann“. Eben: dass ich falsch bin. Im Kindergarten kam die Ablehnung hauptsächlich von den Erzieherinnen, an Probleme mit den Kindern kann ich mich nicht erinnern. In der Schule war es genau umgekehrt: mein Lernwille, Arbeitseifer und meine Aufmerksamkeit gefielen den Lehrkräften. Negativ fiel nur auf, dass ich immer wieder Dinge in Frage stellte oder unbedingt auf meine eigene Art erledigen wollte. In der Klasse jedoch war ich einigermaßen verhasst. Ich wurde ausgrenzt, gehänselt und teilweise offen angegriffen. Ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte und wusste mir nicht zu helfen.

Über die Jahre wurde es immer klarer: ich war falsch. Ich durfte nicht so sein. Also fing ich irgendwann als Teenager an, mich stärker anzupassen. Der Prozess dauerte viele Jahre, aber irgendwie erschuf ich mir eine Art Alter Ego, eine Persönlichkeit, die zugewandt, verständnisvoll, kommunikativ, lustig und extrovertiert wirkt. Ich ließ mir nicht anmerken, dass mir vieles zu laut, zu voll, zu viel war. Ich dachte wirklich, ich hätte mich verändert. Ich wollte diese Person sein. Die Konsequenz war, dass ich permanent über meine Grenzen ging, dass ich mir zu viel zugemutet habe, mich irgendwie selbst nicht mehr gespürt habe.

Und so ging es mir scheinbar gut. Scheinbar bekam ich alles mühelos hin. Scheinbar war ich eine absolute Schafferin. Scheinbar war ich stark. Leute haben mich oft und gerne um Rat gebeten, ich habe viele Aufgaben übernommen, insbesondere auch in der Kirchengemeinde. Ich habe Gruppen geleitet, Aktivitäten initiiert und teilweise sogar erfunden/entwickelt. Doch der Schein trügt bekanntlich oft.

Die Fassade bekam Risse, als in der Pandemie plötzlich alles anders war, alle Routinen wegbrachen und ich viele Dinge hinterfragen musste, auch meine Motivation dahinter. Die Lockdowns zeigten mir, wie viel besser es mir in der Ruhe und Abgeschiedenheit ging. Ich merkte, wieviel zufriedener, glücklicher und produktiver ich war. Ich war sehr dankbar für diese Zeit. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass ich im autistischen Burnout landete. Seither kann ich die Fassade nicht mehr in gleichem Maße aufrecht erhalten wie früher. Ich bin viel schneller reizüberflutet, ich brauche mehr Zeit zur Regeneration, sensorische Eindrücke sind schmerzhafter als früher, ich „stimme“ sichtbarer und maskiere etwas weniger.

Und doch trügt der Schein noch immer. Die letzten Wochen waren für mich sehr anstrengend. Beruflich stand viel an und auch privat gab es Herausforderungen. Daher habe ich auch hier nichts geschrieben – ich hatte keine „Spoons“ mehr übrig. Und doch habe ich „funktioniert“. Auf der Arbeit hat man mir kaum angemerkt, wie es mir geht. Ich war keinen Tag krank. Migräneanfälle? 800 Ibu und weiter geht’s. Kaum geschlafen? Nickerchen nach der Schule muss es richten. Betriebsausflug? Dann sag ich halt private Treffen ab. Klasse zu laut? Zeig nur keine Schwäche. Korrekturstapel? Dann kochen sich meine Kinder halt selbst was. Hauptsache, niemand merkt, dass ich völlig am Ende bin.

Unsere Gesellschaft ist extrem ableistisch. Wir haben zu funktionieren, wir müssen produktiv sein und unseren Teil beitragen. Es gibt keine Extrawurst. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Dieses Denken ist so tief verankert, dass es sehr schwer ist, zu zeigen, dass man den Ansprüchen nicht gerecht wird. Ich habe Angst, meine Schwächen zu zeigen. Ich weiß nicht, wer sie ausnutzen wird. Oder ob ich dann noch für voll genommen werde. Ich möchte gerne voll authentisch sein, offen autistisch leben. Aber ich habe Angst, wieder gehasst und ausgegrenzt zu werden. Der gut gemeinte Ratschlag „sei einfach du selbst“ ist für autistische Menschen mitunter gefährlich.

Comments

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten