Fühlen

Innehalten und fühlen. Wie geht es mir jetzt gerade? Ich bin müde. Meine Augen fühlen sich trocken an. Alles juckt. Die aufgekratzten Stellen an den Fingern brennen ein kleines bisschen. Ich habe Angst (ist es Angst?) vor den nächsten Tagen. Fühle mich überfordert und überreizt. Gedanken zu fassen, fällt mir schwerer. Es ist wie Blei im Körper, alles ist schwerfällig. Irgendwie dumpf, irgendwie leer. Was sagt mir das über meine Gefühlslage, über meinen Zustand? Es ist klar, dass ich mich nicht fit und wohl fühle. Ist es einfach nur Erschöpfung? Reizüberlastung? Sorge? Angst? Frustration? Überforderung? Eine Mischung aus allem?

Aus den beschriebenen körperlichen Empfindungen leite ich ab, dass ich tatsächlich relativ erschöpft bin. Und ich vermute, dass ein Shutdown auf mich zurollt. Sprechen wird gerade zunehmend schwierig. Ich kann das einigermaßen beschreiben, jedoch nur bedingt deuten. Durch die Arbeit an meinen Themen in letzter Zeit ist mir noch deutlicher bewusst geworden, wie abgeschnitten meine Gefühle vom Rest sind. Klar fühle ich Dinge. Aber zum Einen kann ich nur unzureichend einordnen und benennen, was ich überhaupt fühle (abgesehen von körperlichen Wahrnehmungen wie Hunger, Durst, Müdigkeit…). Zum Anderen sehe ich auch deutlicher, wie aktiv ich meine Gefühle unterdrücke.

Das habe ich quasi „live“ und bewusst wahrgenommen, als ich vor ein paar Tagen eine Free Writing Übung gemacht habe. Ich wollte sehen, wohin es mich führt. Von belanglosen Assoziationsketten ausgehend von einem Alltagsgegenstand bin ich ziemlich schnell bei sehr essentiellen Fragestellungen gelandet. Ich fing an zu weinen und sofort war der Impuls da, die Gedanken aktiv auf etwas anderes zu lenken. Es war fast wie eine Art Selbsthypnose, ich zwang mich immer wieder, hinzusehen und alles aufzuschreiben, was mir in den Sinn kam. Schmerzhafte, schambehaftete Gedanken, erschreckende Gedanken. Und immer wieder das Wegsehen, das Betäuben, das Wegdrücken. So stark wie nie zuvor habe ich die Taubheit und Leere „gespürt“.

Manchmal habe ich das Bedürfnis, etwas zu fühlen. Ein starkes Gefühl zu erleben. Aber es fällt mir schwer, das aus mir heraus zu tun. Neulich ist mir aufgefallen, dass ich Filme dafür nutze. Ich wähle (unbewusst) Filme aus, von denen ich mir ein bestimmtes Gefühlserleben verspreche. Manchmal ist es eine Komödie, weil ich mich gut fühlen und lachen möchte. Oder ein Actionfilm, weil ich einen Kick spüren will. Aber es kann auch ein Drama oder (Psycho-)Thriller sein, weil ich in Abgründe tauchen will. Weil ich den Schmerz fühlen muss, es aber nicht mein eigener sein darf. Vor Kurzem habe ich „Systemsprenger“ gesehen. Den hatte ich sehr sehr lange auf meiner Watchlist und mich nicht daran getraut, weil ich wusste, dass er sehr intensive Gefühle provozieren würde. Aber an dem Tag brauchte ich genau das. Und es war wie erwartet. Es hat etwas Kathartisches.

Ich sehe einen mehrstufigen Prozess in meinem Weg zu emotionaler Reife: zunächst Gefühle wahrnehmen und beschreiben, Worte dafür finden. Hier mache ich langsam Fortschritte. Auch wenn ich damit schon ein wenig begonnen habe, aber als nächstes käme für mich das bewusste Zulassen von Gefühlen, die ich gerade nicht haben will. Das betrifft nicht nur „negative“ Dinge wie Traurigkeit, Wut oder Frust, sondern auch neutrale bis positive Dinge wie Freude, Erregung oder Verwirrung. Danach käme hoffentlich die Fähigkeit, sich von Gefühlen nicht überrollen zu lassen und sie dennoch bewusst zu spüren, zu verbalisieren und mit der erlebten Situation abzugleichen. Die letzte Stufe wäre dann, dies auch noch in Handlungen münden zu lassen, die „angemessen“ sind. Also zu reflektieren, was ich warum fühle und was ich damit tun kann.

Vermutlich läuft das nicht ganz so stufenweise. Und sicher gibt es dann immer noch genug Situationen, die erstmal überfordern oder in denen man nicht „angemessen“ reagiert. Aber das Ziel wäre zumindest „weniger überfordert“, „angemessener“ und eher im Sinne dessen, was Price mit „fully alive“ meint. Ganz bei mir, in diesem Moment. Nicht hilflos ausgeliefert, nicht reglos, gefühllos, taub, sondern responsiv, bewusst und aktiv. Das ist ein weiter Weg, aber irgendwo muss ich ja anfangen.


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